Arbeitsmarkt aktuell | Presseschau

Unternehmen in Tschechien suchen Arbeitsreserven

Entscheidend ist es, die Beschäftigten ins Zeitalter 4.0 mitzunehmen / Von Miriam Neubert

Prag - Die angespannte Situation auf dem tschechischen Arbeitsmarkt führt zur Anwerbung von Arbeitnehmern aus Drittländern und fördert Investitionen in Digitalisierung und Automatisierung.

Die wachsende Sorge auf Unternehmensseite geben die Zahlen wieder: Im März 2019 waren fast 340.000 offene Stellen bei den tschechischen Arbeitsämtern gemeldet. Arbeit suchten nur knapp 230.000 Menschen. Zwei Jahre zuvor stießen noch 360.000 Jobsucher auf 150.000 offene Stellen, und schon da klagten die Unternehmen, dass der Arbeitsmarkt nichts mehr hergebe. Bis Februar 2019 ist die Zahl der Erwerblosen dem europäischen Statistikamt Eurostat zufolge auf 1,9 Prozent der Erwerbspersonen gefallen. Sie bleibt damit die niedrigste in der Europäischen Union (EU). Viele Betriebe mussten wegen des Mangels an Fachkräften und generell an Arbeitern bereits Aufträge ablehnen.

"Wir müssen langfristig denken und haben den Umsatz daher an die personellen Möglichkeiten angepasst", beschreibt Uwe Hengstermann, Geschäftsführer der tschechischen Tochter des deutschen Kfz-Zulieferers Borgers, die Situation. In Rokycany bei Pilsen, wo der Arbeitsmarkt leergefegt ist, betreibt das Familienunternehmen drei Werke, die Textilverkleidungen für Kofferraum, Fahrkabine und Außenbereiche von Fahrzeugen herstellen. Noch vor zwei Jahren hat Borgers im Boom auf Zeitarbeiter aus dem Ausland gesetzt, was sich aber nicht bewährt hat. "Als Hersteller von Premiumteilen müssen wir absolut zuverlässig und in höchster Qualität fertigen, egal für welche Marke. Mit 1.000 Leiharbeitern und einer damit einhergehenden hohen Fluktuation von 30 Prozent pro Monat sind die Kosten explodiert, weil sich die Qualität so nicht halten lässt", so Hengstermann. Sein Fazit: "Wir möchten weg von Leiharbeitern und den Stamm erweitern."

Sonderregelungen für Mitarbeiter aus Drittländern

Wie hunderte anderer Unternehmen nutzt Borgers das "Regime Ukraine" der tschechischen Regierung. Es ist eine spezielle Regelung für die Beschäftigung von Arbeitskräften aus der Ukraine, die von Tschechiens Behörden eine Arbeitnehmerkarte erhalten, wenn sie eine Anstellung und ihre Eignung nachweisen können. Diese Karte umfasst eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis von bis zu zwei Jahren mit Verlängerungsmöglichkeit. Die komplexe Prozedur kann sich mehrere Monate hinziehen und ist mit Kosten verbunden. Zunächst muss der Arbeitgeber in Tschechien die Aufnahme in dieses Regime beantragen und die Position, die er besetzen möchte, mindestens 30 Tage beim Arbeitsamt ausschreiben. Von den 340.000 offenen Stellen im März richteten sich 180.000 auch an Ausländer mit Arbeitnehmerkarte.

Die Personalsuche in der Ukraine läuft in der Regel über Dienstleister, die die Verträge direkt für das tschechische Unternehmen abschließen. "Bei uns kommen diese Mitarbeiter in den Stamm, und wir besorgen ihnen eine Wohnung", sagt Hengstermann.

Angesichts des angespannten Arbeitsmarkts erwartet die Wirtschaftskammer der Tschechischen Republik, dass sich das Interesse an ukrainischen Mitarbeitern 2019 erneut verdoppeln wird. Sie ist eine der Institutionen, über die eine Firma die Aufnahme in das Regime beantragen kann. Zwar erwägt die Regierung, die Jahresquote von 19.600 Arbeitnehmerkarten für Ukrainer auf 40.000 zu verdoppeln. Doch die Diskrepanz zur Masse der an Ausländer gerichteten offenen Stellen liegt auf der Hand.

Frauen über Teilzeit gewinnen

"Je weiter man aber in der Hierarchiestruktur nach oben geht, desto entspannter ist der Arbeitsmarkt", meint Oliver Schmitt, Partner der auf Executive Research und Outplacement spezialisierten Personalberatungsgesellschaft Teamconsult. Das ginge so weit, dass selbst ein gut qualifizierter Manager ab 50 Jahren über einen Headhunter kaum noch vermittelbar sei. Neben älteren Arbeitnehmern sieht Schmitt vor allem bei der Beschäftigung von Frauen stille Reserven: "Es gibt einen erheblichen Pool von Frauen im Mutterschaftsurlaub oder mit kleinen Kindern, die den Einstieg über Teilzeitarbeit oder Homeoffice suchen". Das könne auch für kleinere Unternehmen, die ihnen flexibel entgegenkommen, eine Chance sein, Fachkräfte an sich zu binden.

Auf Frauen setzt CiS systems im Bezirk Liberec, eine Tochter der deutschen CiS-Gruppe. "Wir stellen kundenspezifische Kabelkonfektionen und Systemtechnik her, was handwerklich geschickte Mitarbeiter benötigt, die mit feinen Produkten gut umgehen können, also besonders Frauen", sagt Geschäftsführer Peter Wöllner, Inhaber des 1975 gegründeten Krefelder Familienunternehmens. Da es immer wieder um Produkte geht, die sie zuvor noch nie in den Händen hatten, werden sie intensiv vorbereitet. Seit 2009 bildet CiS systems außerdem in einer mit Partnern gegründeten Meisterschule im Isergebirge auf eigene Kosten und nach deutschem Vorbild Industriemeister und -meisterinnen aus. "Doch sind wir 2018 an unsere Wachstumsgrenze gelangt, konnten kein neues Personal finden und mussten auf Leiharbeiter ausweichen", stellt Wöllner fest. Jetzt plant der Unternehmer Investitionen in Digitalisierung und Automation. "Wir werden in die Verkettung von IT-geführten Prozessen investieren, damit schneller werden und uns von der Kostenstruktur her verbessern", lautet seine Strategie.

Roboter im Trend

Damit liegt seine Firma im Trend. In Tschechien ist die Automatisierungswelle verzögert angestoßen worden. Als ein Land mit vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten wird vieles noch in manueller oder halbautomatischer Fertigung gelöst. "Das Rad hat sich aber so schnell gedreht durch die Personalknappheit und steigenden Löhne seit 2016, dass die Automatisierung ein Muss ist", sagt Borgers-Geschäftsführer Hengstermann. In Rokycany investiert sein Unternehmen jedes Jahr 5 Millionen Euro in die Automatisierung - zum Teil in neue Anlagen, zum Teil in bestehende Maschinen, die durch Roboter bedient werden. Ein Masterplan richtet die Werke neu aus.

Nach Daten der Internationalen Robotik-Föderation lag Tschechien 2017 mit 119 installierten Robotern pro 10.000 Angestellten der verarbeitenden Industrie auf Rang 20 und über dem weltweiten und europäischen Durchschnitt. Das hat mit dem hohen Anteil der Industrie an der tschechischen Bruttowertschöpfung zu tun und ihrem Schrittmacher, der Kraftfahrzeugindustrie.

Revolution der Kompetenzen 4.0

"In ihrer Rolle als Arbeitskräfte nehmen die Roboter zu, die Menschen aber auch", so Jaroslava Rezlerova, Geschäftsführerin des Personaldienstleisters ManPower für Tschechien und die Slowakei. Umfragen ihrer Gesellschaft ergaben 2019, dass weltweit 87 Prozent der befragten Arbeitgeber in Folge der Automatisierung ihre Belegschaft stabil halten oder ausweiten möchten. In Tschechien sind es sogar 94 Prozent. In diesem Prozess entstehen viele neue Positionen. Dadurch steigt die Nachfrage nach digitalen Kompetenzen, aber auch Soft Skills wie Kommunikations-, Organisations- und Teamfähigkeit. Zugleich veralten Qualifikationen rasch. Schon heute haben Arbeitgeber Schwierigkeiten, den Bedarf an digital qualifizierten Arbeitskräften zu decken, besonders bei IT-Fachkräften. Laut Rezlerova spüren die Unternehmen, dass sie nicht mehr damit rechnen können, das gefragte Profil zeitnah zu besetzen und bauen auf Talente in den eigenen Reihen, die sie fortbilden wollen.

In Rokycany weiß Borgers-Geschäftsführer Hengstermann, dass sein Unternehmen im Zuge der digitalen Transformation mehr Fachkräfte und neue Profile benötigen wird. "Wir brauchen dann weniger die kräftigen, fleißigen Arbeiter, sondern smarte Programmierer, die das System am Laufen halten", erklärt er. Die Qualifikationen baut Borgers selbst auf - entweder durch die Förderung von Mitarbeitern, die sich durch Leistung hervortun oder von jungen Menschen, die aus dem Ausbildungssystem kommen. Der Hersteller der Roboter spielt beim Training eine wichtige Rolle. Am Ende soll jedes Werk über eine Abteilung Robotik mit qualifiziertem Team verfügen. (gtai)

© 2019 Germany Trade & Invest, Autor: Miriam Neubert